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30 Tonnen gegen Smartphone – Warum der Straßenverkehr zur Kampfzone geworden ist

Veröffentlicht am 09. July 2025 | von oneJanik
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30 Tonnen gegen Smartphone – Warum der Straßenverkehr zur Kampfzone geworden ist

Stell dir vor, du steuerst jeden Tag 30 Tonnen Stahl durch die Stadt. 30 Tonnen, die bei einer Vollbremsung noch 50 Meter brauchen, um zum Stehen zu kommen. 30 Tonnen, die nicht mal eben ausweichen können, weil sie an Schienen gebunden sind. Und dann kommt da ein Radfahrer, schaut kurz auf, sieht dich – und schiebt sich trotzdem direkt vor deine Bahn.

Willkommen in meinem Arbeitsalltag als Straßenbahnfahrer. Willkommen in einer Welt, in der Physik optional geworden ist und gesunder Menschenverstand ein Luxusgut. Ich weiß nicht, wann das alles so eskaliert ist. Wann aus dem Straßenverkehr ein Ego-Trip geworden ist, bei dem jeder der Wichtigste ist und alle anderen nur Hindernisse. Aber jeden Tag aufs Neue erlebe ich Situationen, die mich fassungslos zurücklassen – und manchmal auch richtig wütend machen.

Das Physik-Problem: Wenn 30 Tonnen auf Ignoranz treffen

Fangen wir mal mit den Grundlagen an. Eine Straßenbahn wiegt zwischen 25 und 40 Tonnen. Meine wiegt etwa 30 Tonnen. Das ist ungefähr so viel wie 20 Autos zusammen. Und diese 30 Tonnen fahren auf Schienen. Das bedeutet: Ich kann nicht ausweichen. Ich kann nicht mal eben nach links oder rechts. Ich kann nur bremsen. Und das dauert.

Bei 50 km/h brauche ich mindestens 50 Meter Bremsweg. Bei schlechtem Wetter oder nassen Schienen noch mehr. Das sind etwa zwei Straßenbahnlängen. Zwei komplette Straßenbahnlängen, in denen ich nur hoffen kann, dass der Idiot, der gerade vor mir auf die Schienen gesprungen ist, schnell genug wieder wegkommt. Aber das scheint niemanden zu interessieren. Jeden Tag erlebe ich Situationen wie diese: Der Radfahrer-Klassiker: Ich komme mit der Bahn angefahren. Klingel schon von weitem. Der Radfahrer sieht mich, macht Augenkontakt – und schiebt sich trotzdem direkt vor meine Bahn, um auf die andere Straßenseite zu kommen. Als hätte er gedacht: "Ach, 30 Tonnen, das wird schon." Der Auto-Wahnsinn: Autos, die teilweise auf meinem Lichtraumprofil stehen. Ich komme nicht vorbei, klingle wie ein Wahnsinniger, bis die Klingel fast überhitzt – und der Fahrer sitzt da und tut, als würde er mich nicht hören. Manchmal winke ich sogar. Manchmal hupe ich zusätzlich. Aber nein, der Typ muss erst noch sein Telefonat beenden oder seine WhatsApp-Nachricht zu Ende tippen. Das Überholmanöver des Todes: Autos, die mich überholen müssen. Eine Straßenbahn. Die an Schienen gebunden ist. Die nicht schneller werden kann. Aber nein, der BMW-Fahrer muss unbedingt vor mir sein, auch wenn er 200 Meter weiter an der roten Ampel steht.

Die Smartphone-Apokalypse: Wenn die Welt auf 6 Zoll schrumpft

Aber das Allerschlimmste, das absolute Worst-Case-Szenario meines Arbeitsalltags, sind Menschen mit Handys in der Hand. Diese Leute leben in einer Parallelwelt. Für sie existiert nichts außerhalb ihres Bildschirms. Keine 30-Tonnen-Straßenbahn, keine Klingel, keine Physik.

Ich sehe sie jeden Tag: Es ist, als hätten diese Menschen einen unsichtbaren Schutzschild um sich herum. Als würde das Smartphone sie vor der Realität beschützen. Aber 30 Tonnen Stahl interessieren sich nicht für deinen Instagram-Feed. Physik ist nicht verhandelbar.

Das Handy als Realitätsflucht

Ich verstehe ja, dass Handys praktisch sind. Ich habe selbst eins. Aber es gibt einen Unterschied zwischen "praktisch nutzen" und "komplett von der Welt abschalten". Und genau das passiert im Straßenverkehr täglich.

Menschen mit Handys in der Hand sind wie Geister. Sie sind physisch da, aber mental komplett abwesend. Sie hören keine Klingel, sehen keine Bahn, spüren keine Gefahr. Ihre komplette Aufmerksamkeit ist auf diese 6 Zoll Bildschirm fokussiert, als wäre das die einzige Realität, die zählt. Und das ist nicht nur nervig – das ist lebensgefährlich.

Die Ego-Gesellschaft: Warum jeder der Wichtigste ist

Aber warum ist das so? Warum verhalten sich Menschen im Straßenverkehr, als wären sie die Einzigen, die existieren?

Ich glaube, es liegt an unserer Gesellschaft. Wir leben in einer Zeit, in der jeder der Hauptcharakter seiner eigenen Geschichte ist. Social Media verstärkt das noch: Jeder ist ein Influencer, jeder ist wichtig, jeder hat das Recht, im Mittelpunkt zu stehen. Der "Ich zuerst"-Reflex: Dieser Radfahrer, der sich vor meine Bahn schiebt, denkt nicht: "Oh, da kommt eine 30-Tonnen-Bahn, ich warte mal." Er denkt: "Ich will jetzt rüber, also gehe ich jetzt rüber." Sein Bedürfnis ist wichtiger als die Physik. Die Unsichtbarkeit der Anderen: Für viele Menschen sind andere Verkehrsteilnehmer keine echten Menschen mit echten Bedürfnissen. Ich bin nicht Janik, der Straßenbahnfahrer, der pünktlich seine Fahrgäste transportieren will. Ich bin ein Hindernis. Ein NPC in ihrem Videospiel. Die Illusion der Kontrolle: Menschen glauben, sie haben alles unter Kontrolle. "Ich schaffe das schon, vor der Bahn rüberzukommen." "Ich kann gleichzeitig fahren und tippen." "Die Bahn wird schon bremsen." Diese Selbstüberschätzung ist tödlich.

Der Respekt vor der Maschine ist verloren gegangen

Früher hatten Menschen Respekt vor großen Maschinen. Vor Zügen, vor Bussen, vor Straßenbahnen. Sie wussten instinktiv: Das ist größer als ich, das ist stärker als ich, das kann mich verletzen.

Dieser Respekt ist verschwunden. Vielleicht, weil Technik heute so benutzerfreundlich ist. Dein Handy macht, was du willst. Dein Auto bremst automatisch. Dein Computer korrigiert deine Fehler. Alles ist darauf ausgelegt, dir zu helfen, dich zu schützen, deine Fehler zu kompensieren. Aber eine Straßenbahn ist kein Smartphone. Sie ist eine 30-Tonnen-Maschine mit den Gesetzen der Physik. Sie kann nicht einfach "benutzerfreundlich" sein. Sie kann nicht deine Dummheit kompensieren.

Die Entfremdung von der Realität

Wir leben in einer immer digitaleren Welt. Viele Menschen verbringen mehr Zeit in virtuellen Räumen als in der echten Welt. Sie sind es gewohnt, dass sie in Videospielen respawnen können, dass sie Fehler rückgängig machen können, dass nichts wirklich Konsequenzen hat.

Aber die Straße ist kein Videospiel. Hier gibt es keine zweite Chance. Hier gibt es keine Undo-Funktion. Hier ist alles real – auch die 30 Tonnen, die auf dich zurollen.

Was das mit mir macht

Jeden Tag sitze ich in meiner Kabine und frage mich: Wie kann man so rücksichtslos sein? Wie kann man so ignorant sein? Wie kann man sein eigenes Leben und das Leben anderer so wenig wertschätzen?

Es macht mich müde. Es macht mich wütend. Es macht mich manchmal auch traurig. Ich bin nicht nur ein Straßenbahnfahrer. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch, der jeden Tag versucht, andere Menschen sicher von A nach B zu bringen. Ein Mensch, der Verantwortung für hunderte von Fahrgästen trägt. Ein Mensch, der nicht will, dass jemand zu Schaden kommt. Aber ich fühle mich oft wie ein Geist. Unsichtbar. Irrelevant. Als wäre ich nur ein Teil der Maschine, die man ignorieren kann.

Der Stress des Verantwortlichen

Was die Leute nicht verstehen: Wenn etwas passiert, bin ich derjenige, der damit leben muss. Wenn ein Radfahrer vor meine Bahn springt und ich ihn nicht rechtzeitig sehe, bin ich derjenige, der bremsen muss. Ich bin derjenige, der die Verantwortung trägt. Ich bin derjenige, der nachts nicht schlafen kann.

Die Leute denken: "Ach, der Straßenbahnfahrer wird schon aufpassen." Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ich kann nicht zaubern. Ich kann nicht die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. Ich kann nur mein Bestes geben – aber das reicht nicht, wenn alle anderen ihren gesunden Menschenverstand zu Hause lassen.

Ein Appell an die Vernunft

Ich weiß, dass nicht alle so sind. Ich weiß, dass es viele rücksichtsvolle Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger gibt. Aber die Rücksichtslosen werden immer mehr. Und sie werden immer rücksichtsloser.

Deshalb mein Appell: An die Radfahrer: Ich sehe euch. Ich respektiere euch als Verkehrsteilnehmer. Aber bitte, respektiert auch mich. Ich bin 30 Tonnen schwer und kann nicht ausweichen. Wenn ihr mich seht, wartet. Die paar Sekunden werden euer Leben nicht ruinieren. An die Autofahrer: Mein Lichtraumprofil ist nicht euer Parkplatz. Wenn ich klingle, ist das kein Hintergrundgeräusch. Das ist ein Signal. Ein Signal, das bedeutet: "Hier kommt eine 30-Tonnen-Maschine, bitte macht Platz." An die Smartphone-Zombies: Die Welt existiert auch außerhalb eures Bildschirms. Echte Menschen, echte Maschinen, echte Gefahren. Schaut auf. Hört zu. Lebt im Hier und Jetzt. An alle: Wir teilen uns die Straße. Alle zusammen. Das funktioniert nur, wenn wir aufeinander achten. Wenn wir uns respektieren. Wenn wir verstehen, dass wir alle nur Menschen sind, die sicher ankommen wollen.

Schlusswort: Es geht um mehr als Verkehr

Am Ende geht es nicht nur um Verkehr. Es geht um Respekt. Es geht um Rücksichtnahme. Es geht um die Frage, was für eine Gesellschaft wir sein wollen.

Wollen wir eine Gesellschaft sein, in der jeder nur an sich denkt? In der das eigene Ego wichtiger ist als die Sicherheit anderer? In der Maschinen und Menschen gleichermaßen ignoriert werden? Oder wollen wir eine Gesellschaft sein, in der wir aufeinander achten? In der wir verstehen, dass wir alle miteinander verbunden sind? In der ein Straßenbahnfahrer nicht nur ein Hindernis ist, sondern ein Mensch, der einen Job macht? Ich weiß, was ich mir wünsche. Und ich hoffe, dass ich nicht der Einzige bin. Bis dahin fahre ich weiter. Jeden Tag. Mit 30 Tonnen Verantwortung. Und der Hoffnung, dass alle heil ankommen. *PS: Falls ihr das nächste Mal eine Straßenbahn seht – winkt dem Fahrer zu. Wir freuen uns über jedes Zeichen, dass wir gesehen werden. Dass wir Menschen sind. Dass wir wichtig sind.*

30 Tonnen Stahl sind stärker als euer Ego.

Respekt ist keine Einbahnstraße.

Auch nicht im Straßenverkehr.