"Können Sie nicht mal was machen?!" – Warum Busfahrer der Prellbock für alles sind
"Können Sie nicht mal was machen?!" – Warum Busfahrer der Prellbock für alles sind
Es ist ein ganz normaler Dienstagnachmittag. Die Sonne knallt, die Straße ist voll, und meine Bahn steht. Nichts geht mehr. Vor uns ein Unfall, die Schienen sind blockiert. Ich mache die Durchsage, die ich schon hunderte Male gemacht habe: "Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines Rettungseinsatzes kommt es auf unbestimmte Zeit zu einer Verzögerung. Wir bitten um Ihr Verständnis."
Einige seufzen, die meisten zücken ihre Handys. Aber dann kommt er. Der eine Fahrgast, der entschlossen nach vorne marschiert, an meine Kabinentür klopft und fragt: "Ja, können Sie da nicht mal was machen?! Ich muss pünktlich zur Arbeit!" Ich atme tief durch. Was soll ich antworten? Dass ich leider keine Flügel an meiner Straßenbahn habe? Dass ich nicht über Autos schweben kann? Dass ich genauso feststecke wie er? Jeder, der im Dienstleistungssektor mit Menschen arbeitet, kennt das. Aber als Bus- oder Straßenbahnfahrer bist du in einer ganz besonderen Position: Du bist das Gesicht, der Ansprechpartner und der Prellbock für ein riesiges System, auf das du kaum Einfluss hast.Du bist der Blitzableiter
Wenn eine App abstürzt, schreist du nicht dein Handy an. Wenn eine Webseite nicht lädt, beschimpfst du nicht den Router. Aber wenn der Bus zu spät kommt, ist der Fahrer schuld. Warum ist das so?
Ich habe in den letzten Jahren viel darüber nachgedacht und glaube, es liegt an einer Mischung aus Psychologie, Hilflosigkeit und einem fundamentalen Missverständnis darüber, wie öffentlicher Nahverkehr funktioniert.1. Das Bedürfnis nach einem Gesicht
Ein anonymer "Stau", eine "Signalstörung" oder eine "Betriebsstörung" sind abstrakte Probleme. Man kann sie nicht zur Rede stellen. Man kann ihnen nicht sagen, wie sehr sie einem gerade den Tag ruinieren.
Der Fahrer aber ist greifbar. Er sitzt da, nur wenige Meter entfernt. Er ist die erste und oft einzige Person des Verkehrsunternehmens, die man zu Gesicht bekommt. In diesem Moment wird der Fahrer zur Personifizierung des gesamten Problems. Die Wut, die eigentlich dem Stau, der Baustelle oder der schlechten Planung der Zentrale gilt, braucht ein Ventil. Und dieses Ventil bin ich.2. Die Illusion der Kontrolle
Fahrgäste fühlen sich in solchen Momenten machtlos. Ihre Pläne werden durchkreuzt, sie kommen zu spät zur Arbeit, verpassen einen wichtigen Termin oder wollen einfach nur nach Hause. Diese Hilflosigkeit ist frustrierend.
Sich beim Fahrer zu beschweren, ist ein Versuch, ein kleines Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Auch wenn es irrational ist, gibt das Handeln – das Beschweren – das Gefühl, nicht nur passiv zu erdulden, sondern *etwas zu tun*. Man will gehört werden, man will, dass das eigene Leid anerkannt wird. Der Fahrer wird zum Therapeuten wider Willen.3. Fehlendes Systemverständnis
Die wenigsten Menschen wissen, was im Hintergrund abläuft. Sie sehen nicht:
- Den Disponenten in der Leitstelle, der versucht, Fahrzeuge umzuleiten.
- Den Kollegen, der mit seinem Bus im selben Stau feststeckt und deshalb meine nächste Tour nicht pünktlich übernehmen kann.
- Die komplexen Dienst- und Umlaufpläne, die durch eine einzige Störung wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
- Die Tatsache, dass ich als Fahrer oft selbst erst durch die Durchsage der Leitstelle erfahre, was überhaupt los ist.
4. Verlagerung der Verantwortung
"Warum fahren Sie nicht eine andere Strecke?" ist ein Klassiker. Die Leute stellen sich das vor, als würde ich privat mit meinem Auto durch die Stadt fahren und könnte einfach mal spontan abbiegen. Sie wissen nicht, dass ich an feste Routen, Fahrpläne und Anweisungen der Leitstelle gebunden bin. Ich kann nicht einfach "mal was probieren".
Wenn eine ganze Linie gestrichen wird, weil Personal fehlt oder Fahrzeuge in der Werkstatt sind, ist das eine Entscheidung, die Stunden oder Tage vorher im Management getroffen wurde. Aber wer muss die Wut der Fahrgäste an der Haltestelle ertragen, an der der Bus nicht kommt? Richtig, der Fahrer der nächsten Linie, der dann auch noch erklären soll, warum seine Kollegen nicht da sind.Was das mit einem macht
Man lernt, sich ein dickes Fell zuzulegen. Man lernt, zu nicken, Verständnis zu heucheln, auch wenn man innerlich mit den Augen rollt. Man lernt, deeskalierende Sätze zu sagen wie: "Ich verstehe Ihren Ärger, aber ich kann die Autos vor mir leider nicht wegzaubern."
Aber es zermürbt. Jeden Tag bist du der Ankerpunkt für den Frust anderer Leute. Du wirst für Dinge verantwortlich gemacht, für die du nichts kannst. Du bist der Bote, der die schlechte Nachricht überbringt und dafür symbolisch geköpft wird. Das Paradoxe ist: Ich sitze im selben Stau. Ich habe genauso Verspätung. Mein Feierabend verschiebt sich nach hinten, meine Pausen werden kürzer, und mein Stresslevel steigt. Ich bin nicht der Verursacher des Problems, ich bin genauso ein Opfer davon wie jeder Fahrgast. Nur dass ich dabei noch arbeiten und die Verantwortung für hunderte Menschen tragen muss.Ein kleiner Appell
Ich verstehe, dass es frustrierend ist, wenn man auf den Bus wartet und er nicht kommt. Ich verstehe den Ärger über eine plötzliche Umleitung oder eine unvorhergesehene Verspätung. Das alles ist absolut nachvollziehbar.
Aber bevor du das nächste Mal deinen Frust am Fahrer oder an der Fahrerin auslässt, halte kurz inne und frage dich: Kann diese Person an ihrem Lenkrad gerade wirklich etwas an der Situation ändern? In 99% der Fälle lautet die Antwort: Nein. Wir sind keine Manager, keine Verkehrsplaner und keine Zauberer. Wir sind Menschen, die versuchen, dich und 100 andere Leute sicher von A nach B zu bringen – oft unter Bedingungen, die alles andere als ideal sind. Ein bisschen Verständnis auf beiden Seiten der Fahrerkabine würde den Alltag für uns alle so viel einfacher machen. Denn am Ende des Tages wollen wir alle nur das Gleiche: pünktlich und sicher ankommen.Der Fahrer ist nicht dein Feind. Er sitzt mit dir im selben Boot – oder besser gesagt: im selben Bus.