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"Hallo Schatz, ich bin in der Bahn!" – Warum Lautsprecher-Telefonate der Hölle gleichkommen

Veröffentlicht am 09. July 2025 | von oneJanik
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"Hallo Schatz, ich bin in der Bahn!" – Warum Lautsprecher-Telefonate der Hölle gleichkommen

Es ist 7:30 Uhr morgens. Die Bahn ist voll. Menschen dösen noch halb, andere lesen, wieder andere starren müde aus dem Fenster. Und dann passiert es. *PLING* – das unverwechselbare Geräusch eines eingehenden Anrufs. Aber nicht irgendein Anruf. Nein, ein Anruf, der über Lautsprecher angenommen wird.

"HALLO SCHATZ! JA, ICH BIN IN DER BAHN! WAS? ICH VERSTEH DICH NICHT! SPRICH LAUTER!" Plötzlich sind 50 Menschen unfreiwillige Zuhörer eines Gesprächs über Einkaufslisten, Beziehungsprobleme oder die Verdauung von Tante Gertrude. Willkommen in der modernen Hölle des öffentlichen Nahverkehrs. Als Straßenbahnfahrer erlebe ich das täglich. Nicht nur einmal, sondern mehrfach pro Schicht. Und es wird immer schlimmer. Immer lauter. Immer rücksichtsloser.

Das Phänomen: Wenn das Handy zum Megafon wird

Früher war Telefonieren in öffentlichen Verkehrsmitteln schon nervig genug. Man hörte eine Seite des Gesprächs, konnte sich aber noch halbwegs damit arrangieren. Heute ist das anders. Heute haben wir die Lautsprecher-Generation.

Diese Menschen halten ihr Handy wie eine Scheibe Toast vor den Mund und brüllen hinein, als würden sie versuchen, mit jemandem auf dem Mond zu sprechen. Gleichzeitig dröhnt die Antwort des Gesprächspartners aus dem Lautsprecher – für alle hörbar, ob sie wollen oder nicht. Die häufigsten Lautsprecher-Szenarien, die ich täglich erlebe:

Warum machen sie das? Die Psychologie des Lautsprecher-Terrors

Die große Frage ist: Warum? Warum hält man ein Telefon nicht einfach ans Ohr, wie es seit Jahrzehnten funktioniert hat?

1. Die Bequemlichkeits-Falle

Viele Menschen haben sich daran gewöhnt, ihr Handy wie ein Walkie-Talkie zu benutzen. Es ist bequemer, das Gerät vor sich zu halten, anstatt es ans Ohr zu pressen. Besonders bei längeren Gesprächen wird das Handy schwer, der Arm wird müde. Also: Lautsprecher an und alle anderen können mithören.

2. Die Wichtigkeits-Illusion

Manche Menschen glauben, dass laute Telefonate sie wichtig wirken lassen. "Seht her, ich führe wichtige Gespräche! Ich bin beschäftigt! Ich bin relevant!" Es ist eine Form der öffentlichen Selbstdarstellung – auf Kosten aller anderen.

3. Die Generationsfrage

Jüngere Menschen sind oft mit Smartphones aufgewachsen und haben nie gelernt, dass Telefonieren eine private Angelegenheit ist. Für sie ist das Handy ein multimedialer Kommunikationskanal, bei dem Lautsprecher normal sind. Sie kennen die Etikette des "leisen Telefonierens" gar nicht.

4. Die Ignoranz-Blase

Viele Menschen sind sich schlichtweg nicht bewusst, wie störend ihr Verhalten ist. Sie leben in ihrer eigenen Blase und denken nicht daran, dass andere Menschen Ruhe brauchen oder wollen.

Was das mit den Fahrgästen macht

Als Fahrer sehe ich täglich, wie sich die Stimmung in der Bahn verändert, wenn jemand laut telefoniert. Es ist wie ein Virus, der sich ausbreitet.

Die Reaktionen der Fahrgäste:

Die Stille Mehrheit leidet

Das Perfide ist: Die meisten Menschen sind zu höflich, um etwas zu sagen. Sie leiden still vor sich hin, werden immer genervter, aber trauen sich nicht, den Lautsprecher-Terroristen zur Rede zu stellen.

Ich sehe das in den Gesichtern meiner Fahrgäste. Die müde Pendlerin, die eigentlich noch eine halbe Stunde dösen wollte. Der Student, der für seine Prüfung lernen will. Die ältere Dame, die einfach nur ihre Ruhe haben möchte. Sie alle werden zu unfreiwilligen Zuhörern von Gesprächen, die sie nicht interessieren.

Was das mit mir als Fahrer macht

Aber nicht nur die Fahrgäste leiden. Auch ich, als Fahrer, bekomme das alles mit. Und es nervt mich genauso.

Warum es auch für mich problematisch ist:

1. Konzentrationsstörung

Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren, auf meine Fahrgäste, auf die Sicherheit. Wenn hinten jemand lautstark über seine Hämorrhoiden-Operation spricht, ist das nicht gerade förderlich für meine Konzentration.

2. Stress-Verstärkung

Mein Job ist schon stressig genug. Verkehr, Verspätungen, schwierige Fahrgäste. Wenn dann noch jemand permanent laut telefoniert, steigt mein Stresslevel zusätzlich.

3. Hilflosigkeit

Als Fahrer kann ich nicht einfach aufstehen und die Person zur Ruhe ermahnen. Ich muss fahren. Ich bin gefangen in meiner Kabine und muss das Ganze über mich ergehen lassen.

4. Verantwortung für die Atmosphäre

Ich fühle mich mitverantwortlich für das Wohlbefinden meiner Fahrgäste. Wenn die Stimmung in der Bahn schlecht ist, weil jemand rücksichtslos telefoniert, belastet mich das.

Die verschiedenen Typen von Lautsprecher-Telefonierern

In meinen Jahren als Straßenbahnfahrer habe ich verschiedene Kategorien von Lautsprecher-Telefonierern identifiziert:

Der "Wichtigtuer"

Führt angeblich wichtige Geschäftsgespräche über Lautsprecher. Redet über Zahlen, Termine, Deals. Will allen zeigen, wie beschäftigt und erfolgreich er ist. Meist übertreibt er maßlos und führt Gespräche, die auch per E-Mail hätten geklärt werden können.

Die "Familienmanagerin"

Organisiert das komplette Familienleben über Lautsprecher. Wer holt die Kinder ab? Was gibt es zum Essen? Wer geht einkaufen? Alle Fahrgäste werden zu unfreiwilligen Teilnehmern der Familienkonferenz.

Der "Technik-Erklärer"

Erklärt Verwandten oder Freunden über Lautsprecher, wie Technik funktioniert. Meist sehr geduldig, aber auch sehr laut. "Nein, Oma, du musst auf das grüne Symbol drücken. Das GRÜNE! Nein, das andere grüne!"

Die "Beziehungsberaterin"

Diskutiert private, intime Probleme über Lautsprecher. Beziehungskonflikte, Familiendramen, Gesundheitsprobleme. Alles, was eigentlich niemanden etwas angeht.

Der "Dauertelefoniere"

Führt ein einziges, endloses Gespräch über die gesamte Fahrt. Ohne Pause, ohne Rücksicht, ohne Bewusstsein für die Umgebung.

Warum das mehr ist als nur "nervig"

Viele Menschen denken: "Ach, ist doch nur ein bisschen laut. Soll man sich nicht so anstellen." Aber es ist mehr als das. Es ist ein Symptom für ein größeres gesellschaftliches Problem.

1. Verlust der öffentlichen Etikette

Früher gab es ungeschriebene Regeln für das Verhalten in öffentlichen Räumen. Man sprach leise, man störte andere nicht, man respektierte die Privatsphäre. Diese Regeln erodieren.

2. Die Privatisierung des öffentlichen Raums

Menschen behandeln öffentliche Verkehrsmittel wie ihr privates Wohnzimmer. Sie telefonieren, als wären sie allein zu Hause. Der öffentliche Raum wird zum privaten Raum erklärt – auf Kosten aller anderen.

3. Empathie-Verlust

Lautsprecher-Telefonierer zeigen einen fundamentalen Mangel an Empathie. Sie denken nicht daran, dass andere Menschen Ruhe brauchen könnten. Sie sind so in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie die Bedürfnisse anderer ignorieren.

4. Stress und Gesundheit

Ständiger Lärm macht krank. Menschen, die täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und permanent Lautsprecher-Gesprächen ausgesetzt sind, leiden unter chronischem Stress. Das kann zu Kopfschmerzen, Schlafproblemen und anderen Gesundheitsproblemen führen.

Was kann man dagegen tun?

Die Frage ist: Wie geht man mit Lautsprecher-Telefonierern um? Als Fahrer habe ich verschiedene Strategien entwickelt:

Als Fahrer:

Als Fahrgast:

Systemische Lösungen:

Ein Appell an die Vernunft

Liebe Lautsprecher-Telefonierer, ich verstehe, dass ihr telefonieren müsst. Ich verstehe, dass euer Anruf wichtig ist. Aber bitte versteht auch uns:

Wir wollen eure Gespräche nicht hören. Wir wollen nicht wissen, was ihr zum Abendessen plant. Wir wollen nicht eure Geschäftstermine mitbekommen. Wir wollen nicht eure Beziehungsprobleme lösen. Wir wollen einfach nur in Ruhe fahren. Nach einem langen Arbeitstag, vor einem stressigen Termin, oder einfach nur, um einen Moment der Stille zu haben. Es ist nicht schwer: Haltet das Handy ans Ohr. Sprecht leise. Oder wartet, bis ihr aussteigt. Es sind oft nur wenige Minuten. Diese wenigen Minuten Rücksichtnahme würden das Leben für alle angenehmer machen.

Schlusswort: Es geht um Respekt

Am Ende geht es nicht um Handys oder Lautsprecher. Es geht um Respekt. Respekt vor den Menschen um uns herum. Respekt vor dem öffentlichen Raum. Respekt vor der Tatsache, dass wir alle zusammen in diesem Bus, in dieser Bahn sitzen.

Wir sind keine Statisten in eurem Leben. Wir sind Menschen mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Sorgen, eigenen Wünschen nach Ruhe und Frieden. Ein bisschen Rücksichtnahme würde unsere täglichen Fahrten so viel angenehmer machen. Für alle. Bis dahin fahre ich weiter. Jeden Tag. Mit der Hoffnung, dass irgendwann wieder Ruhe einkehrt in unsere Bahnen und Busse. *PS: Falls ihr das nächste Mal telefonieren müsst – denkt an uns. An die müde Pendlerin neben euch. An den gestressten Fahrer vorne. An alle, die einfach nur in Ruhe ankommen wollen.*

Euer Gespräch ist nicht wichtiger als unsere Ruhe.

Lautsprecher sind kein Grundrecht.

Respekt ist leiser als ihr denkt.